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Text der Woche

Der Bücherwurm

 

Requiem für die Bibliothek der Geowissenschaften Universität Kiel


 

Als sie abgerissen wurde, fand man nur noch ein Nest von Büchern. Mit einem dunklen Fleck darin.

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Hier musste er gelebt haben. Wohl lange Zeit. Erklärten mir die Bücherschlepper. Hockte hier wie versteckt zwischen den alten Regalen. Und verkroch sich, wenn doch mal einer in seine Bibliothek kam, meinte der Hausmeister nachdenklich. Baute sich aus den alten Büchern sein Nest. Wie eine Burg. Bis er eins wurde mit all den Büchern. Mit all dem Gelernten.

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Er liebte sie. Hatte keine Angst vor ihnen. Versteckte sich aber immer mehr vor der Welt, bis alles um ihn herum unwichtig wurde.

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Dabei kam doch Weihnachten.

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Mit jedem gelesenen Buch, verwelkte auch er. Seite um Seite wurde der Bibliothekar grauer und schweigsamer. Dabei wurde sein Wissen über die Menschen immer bunter und gewaltiger, immer barocker und eindringlicher. Bis er es aufgab, noch an die Zukunft zu glauben. Wie eine herausgerissene Seite, so schien er, - verloren. Wie ein Buch, dass jemand in die Förde warf.

Er hatte sich in eine eigene Welt verloren. Welkte immer mehr. Las und las, dachte immer mehr, verzweifelte am Menschen, bis er sich selbst vergessen hatte; sich und eure Welt.

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Kurz vor Weihnachten beschloss die Leitung, die alte Bibliothek endlich abzureißen. Studenten lasen längst keine Bücher mehr. Selbst die Wissenschaftler, sie hatten das Schreiben für uns Menschen in eigener Muttersprache lächelnd - vergessen.

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So kam das Bücherauto. Die Arbeiter rissen alles heraus: die Regale am Ende auch, und mit allem Inventar, unbemerkt auch den vertrockneten Bücherwurm. Wusste auch keiner seinen Namen mehr.

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Nur ein Fleck verblieb. Und einige brüchige Schnipsel der schützenden Burg. Mit all den Hundert Jahre alten Büchern schafften sie ihn unbemerkt - fort. Ins Heizwerk. Zum Müll unserer Tage. Niemand wunderte sich.

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Waren doch nur Bücher.


 

Im November 2023

© Andreas Fehler

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